Im Gespräch mit Hans Christian Aavik

Intendantin Katrin Kirsch spricht mit Young Artist in Focus Hans Christian Aavik

Katrin Kirsch: Lieber Hans Christian, Du bist noch keine 27 Jahre alt und doch liest sich deine Vita schon wie eine große Erfolgsgeschichte. Du hast 2022 den 1. Preis der Carl Nielsen International Competition gewonnen, dazu im gleichen Jahr den Usedom-Preis und den Jahrespreis des Kulturerbes Estlands, du warst „Rising Star“ bei der Deutschen Grammophone und zu Beginn dieses Jahres der „One to watch“ des Magazins „Gramophone“, also ein Künstler, den man im Auge behalten sollte. Was hat dich bewogen, das Angebot von Risto und mir anzunehmen, das WKO Heilbronn die nächsten Jahre als Young Artist in Focus zu begleiten? Was schätzt du an unserem Orchester?

Hans Christian Aavik: Ich hatte bereits zuvor vom WKO Heilbronn gehört, und alles, was ich darüber wusste, war außergewöhnlich positiv. Das erste Mal hatte ich im Casals Forum in Kronberg die Gelegenheit, mit seinen wunderbaren Musiker:innen zu spielen, wo ich Mozarts „Sinfonia Concertante“ zusammen mit dem Bratschisten Sao Soulez Larivière aufführte. Ab diesem Moment war ich tief beeindruckt von dem Engagement des Orchesters für Exzellenz und von der unglaublichen Atmosphäre, die es schafft. Das WKO Heilbronn hat eine reiche Tradition und eine Historie der Zusammenarbeit mit herausragenden Musiker:innen und Solist:innen, was ihm einen reichen Erfahrungsschatz verleiht. Gleichzeitig fühlt sich das Spielen mit ihnen an wie Musizieren in einem erweiterten Kammerensemble – jede:r ist extrem engagiert, bemüht, sich gegenseitig zu inspirieren, während er oder sie selbst Inspiration sucht. Ich glaube, dass diese Dynamik für ein großartiges Orchester wesentlich ist, und das WKO Heilbronn verkörpert sie auf wunderbare Weise. Ich fühlte auch von Anfang an eine unmittelbare Verbindung zu den Musiker:innen und bin begeistert von den vielen faszinierenden Programmen, die vor uns liegen. Ich freue mich auf diese Zusammenarbeit und auf die musikalische Reise, die wir gemeinsam unternehmen werden!

Katrin Kirsch: Du kennst unseren Chefdirigenten Risto Joost schon seit ein paar Jahren. Was verbindet euch und was zeichnet ihn deiner Meinung nach als Dirigenten aus? 

Hans Christian Aavik: Ich habe eine sehr hohe Meinung von Risto - er besitzt alle wesentlichen Qualitäten eines außergewöhnlichen Dirigenten. Sein tiefes Wissen über das Repertoire und die Komponisten, seine akribische Aufmerksamkeit für Details in den Proben und gleichzeitig seine Fähigkeit, Raum für Spontaneität zu schaffen, machen die Zusammenarbeit mit ihm wirklich inspirierend. Was ich besonders schätze ist, dass wir dieselbe Liebe und Leidenschaft für Musik auf höchstem Niveau teilen. Ich kann endlos Zeit damit verbringen, zu verstehen, warum ein Komponist etwas auf eine bestimmte Weise geschrieben hat, und dabei ständig nach neuen Farben und Details suchen. Nachdem ich nun mehrfach mit Risto gearbeitet habe, weiß ich, dass er denselben Ansatz verfolgt. Das gemeinsame Musizieren fühlt sich immer natürlich und zutiefst erfüllend an. Wir streben nach Perfektion, wohl wissend, dass wir sie nie vollständig erreichen werden - doch gerade diese ständige Suche nach etwas Größerem treibt uns an. Diese Werte — Geduld, Neugier und der kontinuierliche Wunsch nach Verbesserung — leiten mich jeden Tag, und ich sehe dieselbe Hingabe in Ristos Herangehensweise an die Musik.

Katrin Kirsch: Du spielst auch bereits regelmäßig ohne Dirigent, du leitest also das Orchester von der Geige aus. Was ist der besondere Reiz daran und ist das leichter oder schwerer als mit Dirigent zu spielen? 

Hans Christian Aavik: Das Führen eines Orchesters von der Violine aus und das Musizieren mit einem Dirigenten sind zwei völlig unterschiedliche Erfahrungen und mir macht beides viel Spaß. Es ist schwierig zu sagen, was einfacher ist, da jede ihre eigenen Herausforderungen und Vorteile mit sich bringt. In der letzten Saison hatte ich beispielsweise die Gelegenheit, alle Violinkonzerte von Mozart mit dem Tallinn Chamber Orchestra ohne Dirigenten aufzuführen, was eine unglaublich inspirierende Erfahrung war. Schon in jungen Jahren habe ich viel Kammermusik gespielt, wodurch ich gelernt habe, wie man ein Ensemble führt und effizient probt. Das Leiten ohne Dirigent stärkt definitiv das Gefühl der Einheit innerhalb des Orchesters, da es eine intensivere Kommunikation, Vertrauen und eine gemeinsame musikalische Verantwortung erfordert. Gleichzeitig entwickeln sich bei der Zusammenarbeit mit Dirigenten andere Aspekte des Musizierens, es eröffnet neue Perspektiven und Interpretationen. Ich glaube, dass man beides tun sollte – ein Orchester ohne Dirigent leiten und mit Dirigenten arbeiten –, da jeder Ansatz wertvolle Wachstumsmöglichkeiten bietet und das Verständnis für Musik vertieft. 

Katrin Kirsch: Du hast schon enorm viel erreicht in deiner noch jungen Karriere und wirst im Oktober 2025 dein Debüt in der Carnegie Hall geben (zusammen mit dem Estonian Festival Orchestra und der Geigerin Midori unter der Leitung von Paavo Järvi) und zwar mit dem Violinkonzert „Tabula Rasa“ von Arvo Pärt für zwei Violinen. Das ist übrigens ein Werk, das Risto gerne mit dem WKO und mit dir aufführen und auch aufnehmen möchte. In einem Interview hast du gesagt: die Gefahr ist nicht, dass man zu hohe Ziele hat, sondern dass die Ziele, die man sich selbst setzt, zu niedrig sind und dass man das Ziel erreicht. Was sind denn deine Ziele als Musiker? 

Hans Christian Aavik: Ja, dieses Zitat von Michelangelo gehört zu meinen Liebsten! Ich habe immer an diese Idee geglaubt und das auch selbst so erlebt. Wenn ich mir ein großes Ziel setze, das anfangs fast unmöglich erscheint, kommen die kleineren Ziele auf dem Weg oft so leicht, dass ich gar nicht merke, dass ich sie erreicht habe… Ich habe verstanden, dass die Grenzen, die wir uns selbst setzen, oft viel weiter entfernt sind, als wir denken. Als Menschen neigen wir von Natur aus dazu, etwas bequem zu sein und suchen oft den einfacheren Weg, um Ergebnisse mit minimalem Aufwand zu erzielen. Doch ich habe gelernt, dass wir dieser Neigung bewusst widerstehen müssen. Grenzen zu überschreiten erfordert Selbstdisziplin und Ausdauer, aber genau dieser Weg führt zu echtem Wachstum. Mein Ziel ist es, die Freude an der Musik mit dem Publikum zu teilen und andere zu inspirieren – egal welchen Weg sie gehen –, dass alles möglich ist, wenn man bereit ist, sein Herz und seine Seele dafür einzusetzen.

Katrin Kirsch: Du hast dein 1. Album 2021 veröffentlicht mit Werken von Bach, Schubert und Pärt und nun ist gerade deine 1. Orchester-CD erschienen mit Werken von Max Bruch und dem 2. Violinkonzert von Erkki-Sven Tüür, das du in der letzten Spielzeit auch mit dem WKO Heilbronn aufgeführt hast. Wir haben kürzlich sogar ein Video davon auf Youtube veröffentlicht (https://youtu.be/4DU7U3tdlA4). Im Neujahrskonzert wirst du virtuose Stücke wie das Rondo capriccioso von Camille Saint-Saëns und Auszüge aus der West Side Story von Leonard Bernstein spielen. Welches Repertoire interessiert dich noch und was bedeutet estnische Musik für dich? 

Hans Christian Aavik: Ich liebe es, ein breites Repertoire zu erkunden, von der frühen Barockmusik bis hin zur zeitgenössischen Musik. Zum Beispiel habe ich vor kurzem ein komplettes Barock-Recital gespielt (Corelli, Biber, Rameau), dann ein Duo-Recital mit meiner Frau (Beethoven, Kreisler, Pärt, Enescu, Bach) und ein paar Tage später Werke von Dohnányi und Takemitsu aufgeführt. Zwischen den verschiedenen Stilen zu wechseln, ist faszinierend – ich genieße es, Verbindungen zwischen unterschiedlichen musikalischen Sprachen zu entdecken und das, was ich aus einem Genre lerne, auf ein anderes anzuwenden. Dieser Kontrast hält mich ständig inspiriert und hungrig nach mehr! Die estnische Musik liegt mir natürlich besonders am Herzen. Als kleines Land sind wir darauf angewiesen, dass unsere Musiker die Werke unserer Komponisten auf die Weltbühne bringen. Dennoch konzentriere ich mich immer auf Musik, die mich persönlich anspricht und die ich als wirklich wertvoll empfinde. Eduard Tubins Violinkonzert Nr. 1 ist beispielsweise ein zentraler Bestandteil meines Repertoires geworden – es ist ein Meisterwerk von Weltrang. Der zweite Satz ist meiner Meinung nach absolut auf Augenhöhe mit dem zweiten Satz des Violinkonzerts von Johannes Brahms! Es gibt so viele verborgene Perlen in der estnischen Musik, die es verdienen, gehört zu werden, und ich freue mich immer darauf, sie einem breiteren Publikum vorzustellen. 

Katrin Kirsch: Du hattest den ersten Geigenunterricht mit 5 Jahren und lebst seit 2017 in Deutschland. Wie hast du das Leben in Deutschland empfunden, als du nach dem Abitur zum Studium nach Frankfurt kamst?

Hans Christian Aavik: Am Anfang war es ein ziemlicher Schock für mich. Ich erinnere mich, dass ich schon in der Schule immer davon geträumt hatte, im Ausland zu studieren. In der ersten Nacht im Studentenwohnheim in Frankfurt hatte ich weder ein Kissen noch eine Decke. In diesem Moment fragte ich mich: „Was genau hat mich dazu gebracht, mein komfortables Leben in Estland mit all meinen guten Freunden und meiner Familie hinter mir zu lassen?“ Aber wenn ich jetzt zurückblicke, war die Entscheidung, in Deutschland zu studieren, bei weitem die Wichtigste meines Lebens. Die Kultur, die Menschen und die Möglichkeiten hier sind fantastisch, und ich bin so dankbar für all die Jahre, die ich hier verbracht habe. An der Kronberg Academy zu studieren, ist wirklich ein wahr gewordener Traum. Wieder gilt derselbe Gedanke: Wenn man ein größeres Ziel vor Augen hat, wird es viel einfacher, kleinere Hindernisse auf dem Weg zu überwinden. Ich bin unglaublich glücklich und dankbar, seit mehreren Jahren dort studieren zu dürfen. Die Erfahrungen, die ich gemacht habe – und weiterhin mache –, indem ich mit einigen der besten Musiker der Welt spiele und sie treffe, sind unbezahlbar. Jeden Monat unterrichten uns erstklassige Musiker, und es ist so spannend zu sehen, wie jeder von ihnen eine ganz persönliche Auffassung von Musik und eine einzigartige Stimme hat. Das war eine riesige Inspirationsquelle für mich und hat mir geholfen, meiner inneren Stimme treu zu bleiben und meine eigene Art des musikalischen Ausdrucks zu finden. 

Katrin Kirsch: Deine Eltern sind keine Musiker, aber dein drei Jahre älterer Bruder war zuerst Trompeter, jetzt ist er Dirigent und deine Frau ist Pianistin und seit zehn Jahren deine Duopartnerin. Wie ist das, zusammen zu arbeiten und zu leben? 

Hans Christian Aavik: Es ist kaum zu glauben, dass Karolina und ich schon seit zehn Jahren zusammenspielen. Im März haben wir tatsächlich eine Tour gemacht, um dieses Jubiläum zu feiern – dieses Konzert wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Ich bin mir sicher, dass die Musik uns enger zusammengebracht hat. Wir haben oft darüber gesprochen, wie wir, wenn wir keine Musiker wären, niemals die gleichen Emotionen erleben würden wie nach einem Konzertauftritt. Uns wurde klar, dass dies tatsächlich eine sehr besondere und einzigartige Erfahrung ist! Die gemeinsame Arbeit in der Musik hat uns unterstützt und uns geholfen, individuell zu wachsen. Wir helfen uns gegenseitig auf unseren musikalischen Reisen, indem wir füreinander da sind und uns inspirieren. Wir heben uns gegenseitig höher, motivieren und inspirieren uns bei jedem Schritt. Schon in meiner Kindheit habe ich mit meinem Bruder viel über Musik gesprochen und alles gemeinsam gemacht. Er hat mir so viele Dinge beigebracht, einschließlich der Disziplin, die man braucht, um Musiker zu werden. Es ist sehr inspirierend zu sehen, wie er Dirigent geworden ist, und ich freue mich immer sehr, wenn wir die Gelegenheit haben, zusammen Musik zu machen!

Katrin Kirsch: Willst du etwas über dein Instrument sagen? Ich meine, die Violine, die du im Moment spielst. 

Hans Christian Aavik: Ich bin der Estnischen Instrumentenstiftung und der Familie Sapožnin zutiefst dankbar dafür, dass sie mir die Möglichkeit geben, auf dieser unschätzbaren Giovanni Paolo Maggini-Geige zu spielen, die um 1610 in Brescia gefertigt wurde. Das Sprichwort „Das Instrument lehrt den Spieler“ trifft meiner Meinung nach vollkommen zu. Ich erinnere mich noch genau an das erste Mal, als ich auf dieser Geige spielte – ich hätte mir nie vorstellen können, dass eine Geige solche wunderschönen Klänge hervorbringen kann! Instrumente wie dieses eröffnen so viele zusätzliche Möglichkeiten, und natürlich gibt es am Instrument selbst nichts zu kritisieren. Die Maggini-Geige spiegelt mein Spiel wahrhaftig wider – sie bringt das Beste in mir hervor, verzeiht aber gleichzeitig keine Schwächen. Jeder kleine Fehler ist hörbar, doch ebenso gewinnt selbst die kleinste gute Idee eine viel größere Bedeutung. Es ist kaum zu glauben, dass ich auf etwas so Altem spielen kann, besonders wenn man bedenkt, wie viel dieses Instrument im Laufe der Jahrhunderte erlebt hat. Selbst Bach wurde erst 75 Jahre nach der Herstellung dieser Geige geboren…! 

Katrin Kirsch: Und zum Schluss noch eine ganz banale Frage: wie bist du zur Geige gekommen und wann hast du entschieden, Profi zu werden? Wer hat dich inspiriert, wer sind deine Vorbilder?

Hans Christian Aavik: Die Geige begleitet mich, solange ich zurückdenken kann. Im Alter von fünf Jahren begann ich, mich sowohl für die Geige als auch für Musik im Allgemeinen zu interessieren. Ich war fasziniert davon, wie ein so kleines Instrument mit nur vier Saiten eine so große Bandbreite an Klängen erzeugen kann. Im Laufe der Jahre entdeckte ich immer mehr, wie besonders die Welt der Geige ist. Sie bot mir etwas völlig Einzigartiges – die unendlichen Möglichkeiten, Emotionen auszudrücken und Geschichten durch Musik zu erzählen. Die lebendigste Erinnerung, die ich habe, stammt aus der siebten Klasse, als ich zum ersten Mal ganz deutlich spürte, dass ich alles tun wollte, um ein Sologeiger zu werden. Das war der Beginn meiner intensiveren Reise in die Welt der Geige und der Musik. Im Laufe meines Lebens hatte ich viele Vorbilder. Ich liebe es, nicht nur Geiger:innen zuzuhören, sondern auch Pianist:innen, Cellist:innen sowie Orchestern. Einige Geiger:innen, die mich inspiriert haben, sind Gidon Kremer, Vilde Frang, Christian Tetzlaff und viele andere. Jede:r von ihnen hat etwas Einzigartiges in seine/ihre Interpretationen eingebracht, und ihre Kunst hat mich tief beeinflusst.

Katrin Kirsch: Vielen Dank für das Gespräch!

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