Kammermusik: »Väter der Klamotte«
»Guten Abend, liebe Gäste, wir erfreuen Euch aufs beste, mit Klamotten, Komödianten, die schon uns’re Väter kannten«. Mit diesem Titelsong strahlte das Deutsche Fernsehen über 20 Jahre eine von Hanns-Dieter Hüsch moderierte Serie aus, in welcher im Wesentlichen Stummfilme der 10er und 20er Jahre gezeigt wurden.
Als Kollege Götz Engelhardt einen Folianten mit sämtlichen, sauber eingeklebten Konzertprogrammen seines Urgroßvaters Heinrich Diehl, um die Jahrhundertwende Konzertmeister des Städtischen Orchesters Aachen, beibrachte, drängte sich mir bei der Durchsicht unweigerlich der Titel für dieses Programm auf. Heinrich Diehl studierte in den 1880er Jahren beim gebürtigen Heilbronner Geiger Hugo Heermann am Hoch’schen Konservatorium Frankfurt, an welchem auch Clara Schumann lehrte.
Wir erhalten hier - mit persönlichem Bezug - einen Einblick in das Musikleben dieser Zeit: Heute etablierte Komponistennamen tauchen dort mit »Uraufführungen« auf. Und offensichtlich hochangesehene Komponisten der damaligen Zeit sind heute komplett vergessen. Die anfängliche Idee, einige der Programme für unsere Reihe in die Neuzeit zu kopieren, scheitert an dem gewaltigen Musikeraufwand, den man sich damals leistete. Denn nicht selten wird ein Kammermusikwerk von einer Wagner-Ouvertüre oder einem hochromantischen Männerchor flankiert. Und auch die Dauer der Programme dürfte ein zeitgenössisches »Sitzfleisch« deutlich überfordern.
Nichtsdestoweniger ist es ein höchst spannendes Zeitdokument, und wenn wir schon nicht Originalprogramme nachspielen können, so können wir doch zumindest Einzelwerke aus diesen zu einem modernen Programm zusammenstellen.
Joachim Raff ist einer der heute noch bekannten Namen. Der in der Schweiz geborenen Spätromantiker war ein äußerst produktiver Komponist: 6 Opern, 11 Sinfonien, 12 Instrumentalkonzerte und 33 große Kammermusikwerke, flankiert von zahlreichen Klavier- und Vokalwerken. Auch wenn man sich aus Anlass seines 200. Geburtstags 2022 größte Mühe gab, sein Werk in den Focus der Öffentlichkeit zu rücken: Unsterblich geblieben ist von Joachim Raff ein einziges kleines Geigen-stück, die Cavatina aus den »Six Morceaux op. 85«, welche ins Repertoire jedes Violinsolisten gehört. Dabei lohnt es sich wirklich, seine Musik anzuhören: Das Klaviertrio G-Dur op. 112 beispielsweise ist ein großes Werk mit wertvollem melodischen Einfall und faszinierender Satztechnik. Zu Heinrich Diehls Zeiten war es eines der häufig gespielten Klaviertrios.
Auch Benjamin Godard, geboren 1948 in Paris, Komponist und als Geiger Schüler von Henri Vieuxtemps, ist heute nur Insidern ein Begriff. Seine 6 Opern, 5 Sinfonien, 4 Solokonzerte sind dennoch komplett aus dem Konzertleben verschwunden. In Deutschland wurde Godards gefühlvolle Musik - wie die meiste französische Literatur dieser Zeit - ohnehin als dekadent und degeneriert abgelehnt. Um so erstaunlicher, dass der Name in Diehls Konzertprogrammen gleich mehrfach auftaucht! Die 6 Duettini op. 18 haben in Archiven überlebt, es sind hochromantische Miniaturen für 2 Violinen und Klavier, welche für die gleich besetzte, aber wesentlich bekanntere »Suite« von Moritz Moszkowski Pate gestanden haben dürften.
Völlig unbekannt ist der Name Iwan Knorr, was beim Blick in seine Vita geradezu absurd erscheint! Knorr unterrichtete zu Diehls Zeit am Hoch’schen Konservatorium Klavier. Geboren in Pommern, wuchs er in Riga auf und übersiedelte schließlich nach Leipzig, wo er bei Carl Reinecke, Ignaz Mo-scheles und Salomon Jadasson studierte. 1874 trat er seine erste Stelle am Konservatorium in Charkow an. Er sandte einige seiner Werke an Johannes Brahms, der sich - ganz entgegen seiner Gewohnheit - äußerst positiv dazu äußerte, Tipps zu Verbesserungen gab, und schließlich auch das Klavierquartett op. 4, Schlussstück des heutigen Programms, seinem Verleger zum Druck empfahl. Knorrs Wunsch, die Ukraine zu verlassen und nach Deutschland zu übersiedeln, wurde ebenfalls durch Brahms’ Empfehlung an Clara Schumann erfüllt. Somit stand einer glänzenden Karriere eigentlich nichts mehr im Weg. Sein völliges Verschwinden aus dem Konzertsaal ist nur mit den stilistischen Erdbeben des 20. Jahrhunderts zu erklären.
Ingmar Lazar, Klavier
Zohar Lerner, Violine
Götz Engelhardt, Violine & Viola
Adriana Schubert, Violoncello
Joachim Raff
Klaviertrio G-Dur op. 112
Benjamin Godard
6 Duettini op. 18
Iwan Knorr
Klavierquartett Es-Dur op. 3
KAMMERMUSIK
DI 09.06.26 | 19 Uhr
Heilbronn, Unter der Pyramide,
Kreissparkasse Heilbronn